Erklärung der islamischen Organisationen in Bremen zur zunehmenden Islamophobie / Islamfeindlichkeit in Deutschland

Der heimtückische Mord an Marwa El Sherbini am 01. Juli 2009 hat die muslimischen Gemeinschaften in Bremen zutiefst beunruhigt und schockiert. Unsere Gebete und unser Mitgefühl gilt unserer ermordeten Schwester, ihrem schwerverletzten Ehemann und ihrem traumatisierten Kind. Der Tathergang lässt keinen Zweifel daran, dass dieses Verbrechen aus einem eindeutig islamfeindlichen Motiv begangen wurde. Marwa El Sherbini wurde umgebracht, weil sie Muslimin und durch das Kopftuch als solche erkennbar war.

Mit großer Besorgnis beobachten wir einen immer stärker werdenden antiislamischen Rassismus in unserer Gesellschaft, in der die ganze Palette antiislamischer Ressentiments zum Ausdruck kommen!

Noch größere Sorgen macht uns allerdings die Tatsache, daß dem Vorfall weder in der Berichterstattung noch in der Wahrnehmung der Politik und der Gesellschaft, die notwendige Bedeutung zuteil wurde. Die Bundeskanzlerin und der Außenminister haben sich erst zehn Tage nach dem Mord an Marwa El-Sherbini dazu geäußert. Die Bremische Politik/Regierung hat, unserer Kenntnis nach, bisher überhaupt nicht auf dieses schreckliche Ereignis reagiert, oder den Kontakt zu den islamischen Organisationen gesucht. Zumindest haben wir es nicht wahrnehmen können.

Es scheint, dass die deutsche Gesellschaft und insbesondere die Politik die Tragweite des Dresdner Anschlags nicht erkannt hat. Es fehlt die Erkenntnis, dass der Mord an Marwa El Sherbini ganz offensichtlich das Ergebnis der beinahe ungehinderten Hasspropaganda gegen Muslime von den extremistischen Rändern der Gesellschaft bis hin in deren Mitte ist.1

Die relevanten islamischen Organisationen in Bremen haben daher beschlossen, diesen Brief an die Senatsregierung zu formulieren und ihre Befürchtungen, Sorgen und Ängste über diese gefährliche gesellschaftliche Entwicklung zum Ausdruck zu bringen, aber auch ihre Erwartungen und Hoffnungen für eine friedliche gemeinsame Zukunft zum Ausdruck zu bringen

Marwa El-Sherbini ist das bisher tragischste Opfer rassistischer Agitationen gegen den Islam und die Muslime und insbesondere gegen muslimische Frauen und Mädchen, die tagtäglich Demütigungen, Beschimpfungen, Denunziationen und Diskriminierungen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind.

Die Antidiskriminierungsberichte der letzten Jahre, machen deutlich daß es sich hierbei nicht um die Tat eines verwirrten Einzeltäters handelt, sondern um eine unheilvolle gesellschaftliche Entwicklung, einer islamophoben Einstellung in der Gesellschaft, die mit dieser Tat einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hat.

Seit Jahren gibt es neben parteipolitischen Projekten mit explizit antiislamischer Ausrichtung und „Bürgerinitiativen“ gegen Moscheeneubauten, eine zunehmende Zahl islamfeindlicher Internetseiten, auf denen häufig in rassistischer, beleidigender, hasserfüllter und oft gewaltverherrlichender Weise gegen Muslime und den Islam sowie generell gegen Migranten aus islamischen Ländern gehetzt wird. 2 Der unverhohlen rassistische Mob, der sich im Kommentarbereich solcher Onlineforen tagtäglich versammelt, malt sich dabei etwa aus, H-Bomben über Mekka und Medina abzuwerfen, nachdem sie „jeden Moslem, der sich anmaßt, ehemals christlichen Boden mit seiner Existenz zu beflecken“, niedergemacht haben. 3 Die Politik sollte mit der selben Entschlossenheit gegen diese Hass-Propaganda vorgehen wie sie gegen Pädophilie und Kinderpornographie im Internet vorgeht.

Es macht sich unter den Muslimen immer mehr das Gefühl des hilflosen Ausgeliefertseins gegenüber rassistischer Hetze breit, zumal diese nicht mehr auschliesslich aus den „Rändern der Gesellschaft“, sondern immer mehr aus der sog. „Mitte“ zu kommen scheint. Die von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes veröffentlichte Sinus-Milieustudie “Diskriminierung im Alltag” zeigt diese erheblichen Defizite und verzerrten Wahrnehmungen in der Gesellschaft deutlich auf. Auch ein hoher formaler Bildungsgrad an sich führt leider nicht dazu, dass pauschale Abwertungen von Muslimen ausbleiben. Nicht nur in konservativen Kreisen hält man Diskriminierung, die Muslime treffen, für gut verständlich, wenn nicht sogar für gerechtfertigt („Muslime würde ich diskriminieren, das Drecksvolk!). 4 Man fordert sogar Muslime von „Grundrechten“ auszuschließen. Ein unsägliches Beispiel ist hier die Forderung des CDU Politikers Hans Jürgen Irmer der sagt: "Es ist absurd, dem Islam Religionsfreiheit im Sinne unseres Grundgesetzes zu gewähren“. 5

Damit hat die latente Islamfeindlichkeit, eine noch nie da gewesene Dimension erreicht, die droht den sozialen Frieden in der Gesellschaft und das Zusammenleben von Muslimen und Nichtmuslimen nachhaltig zu stören und längst den Boden freiheitlich demokratischen Grundordnung verlassen hat.

Der mit allen Mitteln geführte Kampf von Politkern für ein Verbot des Kopftuchs im öffentlichen Dienst oder die Diffamierung einer islamischen Identität durch die Verfassungsschutzämter ist das falsche Signal an die Gesellschaft und haben erheblich dazu beigetragen, dieses Klima des Hasses gegen den Islam und die Muslime zu schaffen. Der Hass gegenüber Muslimen hat dadurch einen intellektuellen und durch den Staat legitimierten Überbau erhalten.

Es drängt sich der Eindruck auf, daß die staatlichen Sicherheitsorgane insbesondere die Verfassungsschutzämter sich mit ihrer negativen Interpretationspraxis islamischen Handelns und Wirkens in der Gesellschaft, inzwischen auf die Bekämpfung einer selbstbewussten islamischen Identität und Stärkung von Vorurteilen gegenüber dem Islam konzentriert haben, um so ihre Daseinsberechtigung zu legitimieren.

Die Themen Sicherheit und Terrorismusprävention stellen heute Hauptpfeiler im Umgang mit den Muslimen und dem Islam in Deutschland dar. Zunehmend wird mit dem Sicherheitsaspekt immer mehr die Frage der Integration der Muslime und der Umgang mit ihnen im gesellschaftlichen Kontext verquickt. Dabei arbeiten die Sicherheitsbehörden mit Vorfeldkonstruktionen und Radikalisierungsszenarien, die reine Phantasiekonstruckte sind. Angesichts der Größe der terroristischen Gefahr sei deshalb eine Abwägung der Rechtsgüter vorzunehmen. Daher sei eine Präventionspolitik - auch wenn diese erheblich in Grundrechte eingreife – legitim.

Diese Vorgehensweise hat inzwischen dazu geführt, daß viele Mitglieder islamischer Gemeinden Angst haben, ein Amt zu übernehmen bzw. überhaupt offiziell einer Gemeinde anzugehören. Man weiß ja nie, wer einmal in der Gemeinde war, wer einmal in die Moschee kommt oder wer einmal was auf die Internetseite eingestellt hatte, für die man dann etwa als Vorsitzender mit verantwortlich ist. Das ist wohl nicht im Sinne, der immer wieder in der deutschen Islamkonferenz geforderten Integration.
Die Verantwortungsträger aus Politik und Verwaltung aber auch „Intellektuelle“ wie Ralph Giordano und Henryk M- Broder, „profilierte“ IslamkritikerInnen wie Necla Kelek und Seyran Ates und die Vertreter des „investigativen“ Journalismus und der Sensationspresse, sollten sich darüber im Klaren sein, dass dieser „Kampf“ um die öffentliche Sichtbarkeit islamischer Religiosität, schlicht stigmatisierend ist und wegen der Dämonisierung durch Gesetz und Verwaltungsapparat erst den Weg für diese Gewalt und Diskriminierung ebnet.

“Wenn sich die Politik weiterhin wie bisher dilettantisch mit dem Erstarken eines antiislamischen Genres als Ausdruck von Meinungsfreiheit befasst und Probleme ausschließlich aufseiten von Muslimen vermutet, werden wir die längst gerufenen Geister bald nicht mehr bändigen können.” 6 Wir sehen, in dieser politischen Haltung eine der Ursachen, die es Tätern erleichtern, Kopftuch tragenden Frauen Gewalt anzutun und ihre Ressentiments gegen die Muslime und den Islam offen Kundzutun, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Wir fordern isnbesondere die Politk auf, dieser unheilvollen Entwicklung Einhalt zu gebieten.

Alle Menschen, die an einem friedlichen und menschenwürdigen Zusammenleben in gegenseitigen Respekt interessiert sind, sind aufgerufen Zivilcourage zu zeigen und sich gegen diese islamfeindliche Tendenzen einzusetzen.

Wir appellieren daher an die vielen, vielen Christen, Juden, Integrations- und Islambeauftragten, Politiker, Gewerkschaften und Menschnrechtsorganiosationen die seit Jahren mit den Muslimen im Dialog stehen, “jetzt” Protest gegen diese Entwicklung zu erheben, die unsere Gesellschaft spaltet und in der Konsequenz eine gelungene Integration der Muslime unmöglich macht.

40 Jahre Bemühungen um einen Dialog und Integration der Muslime in die Gesellschaft, drohen zum Opfer einer menschenverachtenden Grundhaltung zu werden. Wir appellieren angesichts dieses Verbrechens auch und insbesondere an unsere muslimischen Brüder und Schwestern, nicht zu resignieren und sich nicht entmutigen zu lassen. Wir müssen den Kurs der Annäherung an die Mehrheitsbevölkerung fortsetzen, zu dem es keine Alternative gibt! Denn diese Gesellschaft ist auch UNSERE Gesellschaft, mit all ihren vielfältigen Facetten, ihren negativen und positiven Erscheinungen und Tendenzen.

Diese unheilvolle Entwicklung macht es notwendig konkrete Forderungen an die “tragenden” Institutionen der Gesellschaft zu stellen, deren Umsetzung von essentieller Bedeutung für die weitere Entwicklung und den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft sind:

Deutschland muss spätestens jetzt hart mit sich selbst ins Gericht gehen. Es gilt nicht nur, die Hetzer zu isolieren und zu bestrafen, sondern auch nachhaltige Aufklärungsarbeit zu leisten sowie das Wissen über die moslemische Bevölkerung, ihre Kultur, ihre Religion und ihre Bräuche zu verbreiten. 7

Der Versuch der Kirchen sich gegen die Muslime und den Islam zu „profilieren“ und den Muslimen als „Gegner“ zu begegnen ist keine geeignete Basis für einen fruchtbaren Dialog. Die Kirchen sollten den Muslimen partnerschaftlich und im Bewusstsein, aus einem besonderen Auftrag und Verantwortung für den Frieden und die Gerechtigkeit in der Gesellschaft einzutreten begegnen, woraus sich vielfältige Ebenen der Zusammenarbeit und des Dialogs ergeben können.

Auch die Gewerkschaften und Berufsverbände sind aufgerufen, ihren Beitrag zur Bekämpfung der Islamophobie zu leisten, in dem sie ihre Mitglieder mehr über den Islam und die Lebenswelt der Muslime informieren und sich auch für die Rechte „Kopftuch tragender Frauen“ einzusetzen, denen durch die gesetzliche Diskriminierung quasi ein Berufsverbot erlassen wurde.

Alle sozialen Gruppen, welche in vielen Bereichen diskriminiert waren, wurden in den letzten Jahrzehnten per Gesetz geschützt. Nur Kopftuch tragende Musliminnen werden vom Gesetzgeber weiterhin ungleich behandelt und diskriminiert. Dieses Verbot im öffentlichen Dienst erschwert den Kopftuch tragenden Musliminnen auch den Zugang zum Beruf auf dem privaten Arbeitsmarkt. Unser Land braucht ein Umdenken. Unsere Demokratie muss diesen Fehler korrigieren. Die Gewerkschaften sollen die Politik zum Handeln aufrufen um dieser Ungleichbehandlung bzw. Diskriminierung der Musliminnen ein Ende zu setzen. Auch die Politik hat eine Bringschuld gegenüber den Muslimen!
Das Tragen des Kopftuches ist kein Zeichen der Intoleranz oder Abgrenzung, sondern Ausdruck des religiösen Bekenntnisses, mit dem die muslimischen Frauen bereit sind, sich aktiv in die Gesellschaft zu integrieren. Die steigende Zahl Kopftuch tragender muslimischer Frauen an den Hochschulen, Universitäten, im Arbeitsleben und auch im Schuldienst, belegt anschaulich, dass die Integration durch das Kopftuch nicht behindert wird. Gerade mit dem Kopftuch ermöglicht der Islam den muslimischen Frauen die Möglichkeit sich frei an gesellschaftlichem Leben, Politik, Bildung und Ausbildung, Arbeitsleben, usw. zu beteiligen.

Die Muslime haben für den geforderten Dialog ALLES getan was ihnen möglich ist. Sie haben sich der Gesellschaft geöffnet und sind aus den „Hinterhöfen herausgetreten und haben angefangen ihre Moscheen an „sichtbaren“ Stellen zu bauen; das ihnen wiederum als Versuch der Occupation und schleichenden Islamisierung ausgelegt wird.
Sie machen vorbildliche Integrations- und Jugendarbeit in ihren Moscheen und Jugendvereinen, geben den jungen Menschen Identität, Halt und Orientierung, und hören den Vorwurf, das „ihre stark auf die Bewahrung einer „islamischen Identität“ ausgerichteten Aktivitäten Desintegration vertiefen, zur Entstehung islamistischer Parallelgesellschaften und zur Radikalisierung im Sinne einer Integration in den politischen Extremismus (Islamismus) beitragen.“ 8

Sie rufen ihre Mitglieder auf, sich in allen gesellschaftlichen Bereichen zu engagieren und sich einzubringen, in die Parteien und Gewerkschaften einzutreten, sich in der Wohltätigkeit und Familienberatung kommunaler und kirchlicher Wohlfahrtsverbände zu engagieren, was ihnen wiederum als Versuch zur „Unterwanderung“ unterstellt wird.
Sie artikulieren Ihre Forderung nach gesellschaftlicher und politischer Anerkennung als Religionsgemeinschaft und Gleichstellung mit den Kirchen, was ihnen mit arroganten und fadenscheinigen Begründungen seit über zwei Jahrzehnten in Bremen verwehrt wird. 9

Die Parteien müssen sich endlich auch in Bezug auf die Muslime und deren Integration in die Gesellschaft klar und deutlich erklären und die Belange und Forderungen der Muslime und ihrer Organisationen in ihr Parteiprogramm aufnehmen. Muslime sind letztlich auch Wähler, deren Stimmen und Bedeutung mit jeder Wahl noch wichtiger werden.
Und die Politik muss endlich die Muslime in ihrer Gesamtheit und ihre legitimen Vertreter als Ansprechpartner anerkennen und als integralen Bestandteil unserer Gesellschaft betrachten. Sie muss die Leistungen der Moscheen für die Integration und den sozialen Frieden in der Gesellschaft endlich anerkennen und würdigen.

Den Beziehungen zwischen Staat und Muslimen muss eine beiderseits verbindliche und rechtliche Grundlage gegeben werden. Eine vertragliche Vereinbarung würde beiderseits Rechtssicherheit schaffen: Sicherheit über die Anerkennung einer gemeinsamen Werteordnung, Sicherheit über institutionelle Anerkennung und gesellschaftliche Teilhabe.
Das Projekt eines Staatsvertrages zwischen Senat und Islam, mit dem Ziel der Gewährung der Körperschaftsrechte, würde zudem deutlich machen, daß die Muslime ein integraler Bestandteil der Gesellschaft sind und helfen gesellschaftliche Fehlentwicklungen frühzeitig entgegenzutreten. Es kann sich zudem als Katalysator erweisen auf Gesamtlösungen gesellschaftlicher Probleme hinzuarbeiten.

Angesichts der Dramatik der Entwicklung und der Ereignisse erwarten wir nun konkrete Schritte und Handlungen, um die obig aufgeführten Maßnahmen in die Realität umzusetzen.

Bremen, 30.07.2009

Unterzeichner:

  • ATIB Verband Bremen
  • Bremer Akademikerbund e.V.
  • DITIB Landesverband Niedersachsen und Bremen
  • IFB Islamische Föderation Bremen
  • IKZ Islamisches Kulturzentrum Bremen
  • Muslimische Frauengemeinschaft Bremen
  • Schura Bremen


[1] Stephan J. Kramer Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. http://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-468/_nr-1196/i.html

[2] Pax Europa: http://www.buergerbewegung-pax-europa.de/ Akte Islam: http://www.akte-islam.de/1.html / Politically Incorrect: http://www.pi-news.net/ / Grüne Pest: http://gruene-pest.net/

[3] http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/16/082/1608282.pdf

[4] http://www.migazin.de/2009/04/03/sinus-milieu-studie-offenbart-grose-vorurteile-gegenuber-muslimen/

[5] http://www.migazin.de/2009/04/06/hans-juergen-irmer-cdu-religionsfreiheit-fur-den-islam-ist-absurd/

[6] IMV I (http://www.musafira.de/wp-content/uploads/2009/07/20090703_IMV_MedienZumantiislamMord-inDresden.pdf)

[7] Stephan J. Kramer Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland. http://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-468/_nr-1196/i.html

[8] Integration als Extremismus und Terrorismusprävention, Bundesamt für Verfassungsschutz, 2007, S. 5

[9] Die IFB (Islamische Föderation Bremen) hat 1989 die Gespräche mit dem Senat für die Anerkennung als Religionsgemeinschaft aufgenommen, die nach einigen Jahren erfolglos „im Sande“ verlaufen sind.